„Nie wieder Krieg!“

Bahnfahrten können dauern, nicht selten länger als erwartet – mal, weil sich Tiere, Gegenstände oder einfach eine im Winter unverhoffte Schneeflocke im Gleis befinden, mal weil zwar der Zug, nicht aber das Zugpersonal vorhanden ist. Ganz gleich, was dem Umstand zugrunde liegt, er ruft doch immer zwei kollektive Reaktionen hervor. Die einen ergehen sich in hektischer Aufregung über den wohlvertrauten Umstand der Verspätung, die anderen können nicht anders, als diesen Umstand mit einem lachenden Galgenhumor zur Kenntnis zu nehmen. In beiden Fällen wirkt er als verbindendes Element und hat nicht selten daher das Potenzial über diese Verbindung einen Anfang dafür zu geben, was einem als Begegnung in Erinnerung bleiben soll. Besonders prägend sind dabei die Begegnungen der Generationen.

Auf dem Nachbarplatz sitzt eine ältere Dame, gut gekleidet, vornehm in ihrer Erscheinung, unsicher aber unaufgeregt in ihrem Handeln, ein freundliches Gesicht, fast mädchenhaft unbeschwert. Ihr scheint es gut zu gehen. Man möchte fast neidisch werden, ist man doch selbst voll der Schwere des Alltags, gehetzt von den Aufgaben, die auf einen warten und dabei so blind für das einen Umgebende. Nun aber, da man gezwungen ist zu warten und einem der Anfang eines Gespräches durch dem Umstand des Gemeinsamen als Wartende es einem so leicht macht, ins Gespräch zu kommen, fängt man an zu reden.

Wenn Generationen sich unterhalten prallen Geschichte und Gegenwart unweigerlich aufeinander. Ob es der Dame vom Nachbarsitz gerade gut geht, bleibt ungeklärt. Der einsetzende Neid aber ist schnell verflogen, in Anbetracht ihrer Erlebnisse, die man selbst nicht machen möchte. Denn wenn das Gegenüber ein gewisses Alter erreicht hat, so kommt das Gespräch stets auf die Väter, Brüder und anderen Verwandten und Freunde, die im Krieg waren, dafür ausgezeichnet wurden oder nicht selten „im Krieg geblieben sind“ (was eine genauso ausnahmslose wie bemerkenswerte Redewendung ist – die Angehörigen sind nie im Krieg gestorben, sondern immer nur dort geblieben, als fehlte der Moment des Abschieds). Auch werden Bilder der Entbehrungen, des Leids und der Not, seelisch wie materiell gezeichnet, die zu zeichnen eine Herausforderung sind, machen sie Verdrängtes doch wieder lebendig. Doch sie müssen erzählt werden, damit jene, die weder den Krieg noch deren Folgen erlebt haben, sich einem Gewahr werden, was doch allen, die den Krieg erlebt haben, ihr vorderstes Anliegen scheint: Nie wieder Krieg!

Wann und wo auch immer diese Begegnungen stattfinden, ob in Fern- oder Nahverkehrszügen, Wartesälen oder anderswo, immer wird – zumeist von Frauen – dieser eine Schluss aus der Vergangenheit für das leitende Handeln der Gegenwart gezogen. Immer lautet der letzte Satz am Ende eines Gespräches, in dem man sich bereits voneinander verabschiedet hat: „Nie wieder Krieg!“ – dabei gleich zwei-, dreimal wiederholt, als bräuchte es die zwingende Nachdrücklichkeit der Wiederholung, damit wir Jungen nicht vergessen. Es klingt wie eine mahnende Bitte, aus der Geschichte zu lernen und zu sehen, dass die heutigen Zeiten es notwendig werden lassen, dass Menschen, die über ihr Leid nie wieder reden wollten, es nun doch tun, aus einer Verantwortung für die Zukunft heraus.

Freilich sind die Ideen und Meinungen, wie das Ziel des friedvollen Miteinanders erreicht werden kann, ganz unterschiedliche. Sie reichen von dem Vorschlag, bereits in den Schulen die Grundlagen aller religiösen Strömungen zu lehren, damit ein gewaltgetragender Dissens zwischen diesen gar nicht erst entstehen kann, über die Notwendigkeit des Dialogs zwischen Zeitzeugen und folgenden Generationen, um dem Vergessen entgegenzuwirken, um überhaupt eine dialogorientierte Kultur etablieren zu können, denn „wir dürfen nicht aufhören, miteinander zu reden“, bis hin zu dem Wunsch, sich der friedenstiftenden Kraft der Stille gewahr zu werden und nicht immer jene zu honorieren, die besonders laut sind.

Was allen Vorstellungen gemein ist, ist die Idee eines Miteinanders gebildeter Menschen, die verantwortungsvoll zu Handeln in der Lage sind. Was bleibt, ist die Angst vor dem genauen Gegenteil, so wie es sich derzeit darstellt. Wir haben vergessen und wollen uns nicht mehr erinnern. Wir haben aufgehört, miteinander zu reden und verstehen Unterhaltung nur noch als eine dröhnende Performanz unserer selbst. Wir sind getragen von einem allumfassenden Desinteresse an unserer Umwelt und übersteigert in unserem Interesse an unserem eigenen Wert. Damit schaffen wir unüberwindbare Grenzen und Aggressionen in uns und zwischen uns.

Der Zug fährt in Dortmund Hauptbahnhof ein. Die ältere Dame bittet mich noch, ihren Koffer aus dem Zug und auf den Bahnsteig zu heben. Sie bedankt sich für unsere Unterhaltung, auch wenn es ihr nicht leicht fällt, über die Kriegsjahre zu reden, sie lange Zeit dazu gar nicht in der Lage war. Aber dennoch: „Es ist so wichtig, dass wir miteinander reden.“

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